Postfunktionales Wohnen

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Seit längerem dominiert mit der »Finanzialisierung der Städte« der börsencodierte Immobilienhandel mit einem zynischen Geschäftsmodell: Je mehr Wohnungsnot besteht, desto mehr können die Miet- und Bodenpreise erhöht werden; zum anderen: In der Not ist jede Wohnung begehrt – mit der Folge, dass der volkswirtschaftliche Bedarf wie der demografischen und soziale Wandel weitgehend ignoriert wurde. Die Kritik an diesem Geschäftsmodell kommt inzwischen auch von »Innen« (Blackrock, Joe Stiglitz etc.). Umso mehr stellt sich die Frage, was für heute und morgen der Bedarf an Wohnraum und -formen ist und sein könnte.

Soziale Homogenisierung ist Gift für das Stadtleben
Wenn nur Wohlhabende in der Stadt leben können, verödet die europäische Stadtkultur. Selbst Hipster tauchen in ein urbanes Stahlbad, wenn sie nur noch sich selbst begegnen können.

Nachfrageschock und Mikroverdichtung
Über die Hälfte der Stadtbevölkerung verbindet Wohnen mit Angst – ökonomisch und seelisch. Für ein angemessenes Wohnungsangebot gibt es auch eine städtebauliche Lösung: Mikroverdichtungen: Nachverdichtungen im Kleinen, werden an Baukostenmiete gebunden – d.h. der Bodenanteil an der Miete entfällt, was diese mehr oder weniger halbiert. 

Neue Wohnformen werden in neue Stadtformen übergehen
Wohnen verlagert sich tendenziell von Innen nach Aussen. Kleinfamiliäre Haushalt sind eine Minderheit. Es gibt heute rund 12 verschiedene Milieus. Dabei wird das Innen vermehrt in die Stadt verlagert: Haushaltenergie fliesst in urbane Energie.

Von der Form zur Überform
Mit der Überlagerung von analogen mit digitalen Sphären ist jede Wohnung auch eine Weltbibliothek und ein Kommunikationszentrum. Man muss sich nicht fragen, was in einer Wohnung geschehen kann, sondern was allenfalls nicht.

Wohnen postfunktional und decodiert denken
»Wohnen ist unberechenbare Ereignis« (M. Heidegger). Es stellt sich nicht die Frage, welche Funktionen, sondern welche Möglichkeiten eine Wohnung bieten kann. »Wohnen« ist dabei ein veralteter Begriff. D.h. Räume unterscheiden sich allein atmosphärisch. Das entspricht auch dem postfunktionalen Subjekt, dem Launen und Stimmungen näher sind als Zwecke.

Stadt und Wohnen ist im 21. Jahrhundert untrennbar und bedeutet immaterieller Luxus: Gib uns einen Reichtum an Möglichkeiten – den Rest machen wir selbst!

 

Prof. Ernst Hubeli studierte Städtebau und Architektur. Er ist Inhaber des Büros Herczog Hubeli GmbH in Zürich, das sich mit Projekten an der Nahtstelle zur Kulturpolitik befasst. 1982 bis 2000 war er Chefredakteur der Zeitschriftwerk, bauen + wohnen, danach Leiter des Instituts für Städtebau an der TU Graz. Seine international bekannten Projekte sind z. B. der Gestaltungsplan für das Gesamtareal Sulzer-Escher-Wyss in Zürich-West und das Umnutzungskonzept des Toni-Areals inkl. einer Hochschule. In seiner Forschung setzt er sich mit der sich verändernden europäischen Stadt auseinander (Strukturwandel von öffentlichem Raum, Innovationen im Wohnungsbau, Mikroverdichtung und Baukostenmiete, Urbane Zukunftsszenarien, Stadt und Erdgeschoss u.a.). In Zusammenarbeit mit den Montag Stiftungen in Köln beschäftigt er sich mit der Architektur von Bildungsbauten. In seinem neuesten Buch »Die neue Krise der Städte« (2020), eine pointierte Streitschrift, verhandelt er die Wohnungsfrage für das 21. Jahrhundert neu.